„Mögen Sie klassische Musik?“

 

Wenn mir jemand diese Frage stellt, weiß ich nie so recht was ich darauf antworten sollte. Erwartungsgemäß wird oft und gerne dem Musikpraktizierenden schlicht die Frage gestellt: „Spielen Sie Klassik, oder...?“ - noch schlimmer! Aufgrund meiner künstlerischen Ansichten zwingt es mich dann direkt, wenngleich auch etwas zwanghaft, die Gegenfrage zu stellen: „Was verstehen Sie darunter?“ Mir ist freilich bewusst, dass ich mein Gegenüber damit sofort in die Bredouille bringe, sodass es mir just in diesem Augenblick auch wieder Leid tut; obendrein wird mir dann unangenehmerweise sofort Überheblichkeit vorgeworfen. Dem Unbedarften, der es nun mal nicht besser weiß, schließlich ist er auch nur Opfer eines blöden schulmeisterlichen Dogmas und nicht zuletzt Opfer massenmedialer Willkür und Trivialität, sei es verziehen. Aber wo es mir unter keinen Umständen Leid tut; bei den Vertretern des eigenen Faches:

Konfrontiert man einen Musikstudent, irgendeinen Musikant, Musiklehrer, Musiktherapeut, Musikwissenschaftler oder Ähnliche, entfacht sich binnen einer Minute eine zumeist unsachliche Diskussion, die unweigerlich zum Streit ausartet; und, wenn nicht Bequemlichkeit, ist es meistens pure Eitelkeit. Denn, ach!, klingt dieser Begriff „Klassik“ nicht höchst künstlerisch, schwingt hier nicht eine übergroße Dosis Pathos mit - unangefochten, unantastbar steht er im Raume - wie könne man es wagen, diesen universalkulturellen Terminus in Frage zu stellen? Schließlich findet er doch von allen Verwendung die Mitreden wollen oder von denen, die mit jener Kunst enger zu schaffen haben. Also, Stempel drauf, jeder weiß doch was gemeint ist.

Nein! Der Begriff ist alles und nichts. Er führt eine Trennung herbei, wo keine Trennung sein sollte und wo sie natürlicherweise auch nicht zu finden ist. Musik ist eben Musik. Es gibt Tanzmusik, geistliche sowie liturgische Musik, es gibt Lieder, Arien, polyphone sowie homophone Musik, Vokal- und Instrumentalmusik, symphonische Musik, Kammermusik, meinetwegen romantische Musik, Rockmusik, Jazz, atonale Musik, Chormusik, Easy-listening-Music und nicht zuletzt gibt es laute sowie leise, schöne sowie hässliche, besinnliche sowie heitere Musik und vieles mehr. Was soll denn davon nun „Klassik“ sein? Schnell folgt meist die Aussage: Ernste Musik und Musik die man nach Noten spielt. Die gelehrte Fachschaft, die länger darüber grübelt, kommt möglicherweise, vielleicht idealerweise zur qualifizierten Aussage: Kunstmusik oder Absolute Musik. Letztere sind mir persönlich recht gefällig, aber anzutreffen sind sie leider nicht, da wahrscheinlich zu „akademisch“. Ich sehe noch heute in meiner Erinnerung unseren Lehrer im allgemeinen Musikunterricht drei Epochen an die Tafel krickseln: Barock, Wiener Klassik und Romantik. Daraufhin nahm er eine andersfarbige Kreide, malte einen großen Bogen um jene drei Wörter und kategorisierte rund 300 Jahre musikalischer Kulturgeschichte als „Klassik„. Genauer erörterte er das nicht, wahrscheinlich lag es auch nicht in seiner Kompetenz, wozu auch: Für die nächste Leistungskontrolle hatte man was zum abfragen und das musste reichen. Für den Rest der Zeit sang man „klassische Hits“ wie „Marmorstein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht“, mit Klampfengeschrammel vom Lehrerpult aus, damit die Zeit leichter rum geht, - armes Deutschland!

Neulich hörte ich wieder von diesem vermeintlichen Kulturprojekt, wo man Strawinskys „Le Sacre du printemps“ als Musik zu einer Tanzperformance wählte; ein riesiges Event, da flossen richtig Gelder und gefördert von der Commerzbank, das sagt ja schon alles! Nun, da quoll die Eitelkeit aus allen Löchern und die Kulturfuzzies konnten mal so richtig ihr Renommee aufbessern und ihre Popularität steigern, um irgendwo einen besseren Posten zu erlangen. Das Werk ordnet man übrigens heut in die klassische Moderne ein; wie paradox?! Aber die Krönung: Offiziell heißt es, dieses Projekt diene dazu, jungen Menschen die klassische Musik nahe zubringen. Bitte?! Das Werk stammt aus dem 20. Jahrhundert, das ist noch nicht einmal alt; mit authentischer Pädagogik hat das nun wirklich wenig zu tun. Hier werden kommerzielle Interessen mit vermeintlichen menschenverbessernden bzw. gut-menschformenden Absichten verschleiert, da wird Kunst instrumentalisiert und die Heinis, die daran verdienen, stellen sich als Wohltäter hin, obwohl die selber nur in ihren spießigen Möchtegern-Luxury-Sichtbeton-Panoramafensterwohnbunkern hocken und billige Castingsshows auf RTL klotzen. Würden die vorgeführten Prekariatskinderchen höfische Tänze aus dem frühen 18. Jahrhundert aufführen, mit echter Barockmusik und historischen Kostümen, dann wäre es zwar immer noch nicht klassisch aber zumindest richtig altertümlich und anmutig zugleich. Ferner würde Vergangenheit lebendig und schafft eventuell traditionelles Bewusstsein. Aber „Klassik“ ist eben schick und modern, ein moderner Begriff in einer wahrlich unklassischen Welt; unsere moderne Gesellschaft hat eben keine Klasse, gewissermaßen eine echte Mangelware, deshalb: classic sells. Was mich persönlich daran stört, ist die Tendenz zur Entfremdung unserer (vor allem musikalischen) Kultur und Tradition zu einem Kulturbetrieb hin, extrem ausgedrückt: Wir haben keine Kultur mehr, sondern nur noch einen Kulturbetrieb, der Umsatz machen will und der demnach Verbraucher, Lieferanten und Angestellte benötigt sowie Verwaltungs- und Verwertungsgesellschaften, Verbrauchs- und Gebrauchsgüter, Dienstleistungen und dergleichen mehr. Ein Kulturbetrieb, der ohnehin nur noch mit kulturellem Recycling beschäftigt ist, mit punktuellen (meist wertlosen) Ausnahmen inbegriffen. So sitzt der „goldene Genius“ nun in seinem goldenen Käfig eingesperrt, wie ein wildes, exotisches vom aussterbenden bedrohtes Tier im Zoo. Deshalb fällt mir oft der Wunsch anheim, aus diesem festgefahrenen System auszubrechen, in dem ich all meine Musiknoten, Musikalben, klassischen Musikinstrumente und mein musikalisches Wissen verbannen und vergessen möchte um wieder mit primitiven Pfeifen, Flöten, Hörnern, Trompeten und Trommeln sowie mittels Urgesang archaische bzw. „vorklassische“ Musik zu machen, so, wie es dem Menschen beliebt; laut und wild, unverfälscht und unverbildet, ohne Kategorien, Paradigmen, verzerrten Institutionen und dergleichen:

Noch mal ganz von vorn.

 

David Rosenzweig

2013